Tonio Kröger (UA)

Stück von Matthias Buck und Kay Link nach Thomas Mann

»Gelungen« Frankfurter Allgemeine Zeitung

»Spannend«  »Anspruchsvoll.« Mitteldeutsche Zeitung

Gelungen

Halle, im Februar. Einen Augenblick lang steht Tonio Kröger in Unterhosen da. Rasch streift er einen Leinenanzug und eine knittrige Weste über und sieht mit der Nickelbrille so aus, wie man sich einen Konsulsohn im späten 19. Jahrhundert vorstellt. Seine Jeans liegen zusammengerollt auf dem Pult. Vierundzwanzig Zehntkläßler in ihren Bänken schauen zu. Es ist zehn Uhr morgens. Statt Mathe und Bio gibt es jetzt Theater. Sie Stuhllehnen tragen schon weiße Überzieher mit rätselhaften Satzstücken darauf. Vor dem Fenster steht eine Jalousie, auf einem Sockel eine Gipsbüste. Die drei Schauspieler vom Thalia-Theater sind jung, doch professionell. Eine Garderobe gibt es nicht, die Bühne ist der Klassenraum. Die Füße der Schüler stehen wie festgeklebt unterm Tisch, ihre Augen hängen an Tonio, dem schneidigen Hans und der blonden Inge.
Der Himmel über dem Thomas-Müntzer-Gymnasium in Halle ist blau, vereiste Eichenblätter stieben um den renovierten Jugendstilbau.
Achtzig Minuten hält Thomas Manns Novelle „Tonio Kröger“ die Schüler in Bann. Dann der Applaus. Das war gelungen!

Frankfurter Allgemeine Zeitung

 

Spannende Doppelstunde Deutsch

Kay Link inszeniert Thomas Manns Novelle „Tonio Kröger“ als eine Lebens-Lektion

Es ist eine anspruchsvolle Lektüre, die sich der junge Regisseur Kay Link am Kleinen Thalia Theater Halle in Szene gesetzt hat. Schon die Ausstattung von Thomas Locher, in dessen Klassen-Raum assoziative Texte buch­stäblich über Tisch und Bänken gehen, spielt auf der Klaviatur von Interesse und Ablehnung: „Für wen soll das interessant sein?“ liest man auf einem Pult neben der Frage „Was hast Du mit diesen Sätzen zu tun?“ oder der resignativen Feststellung „Meine Sprache war nicht ihre Sprache“. Hier werden Standpunkte markiert, die den Abstand von Autor Mann zu seinem Leser ebenso wie den der Figur Kröger zu seiner Zeit beschreiben könnten. Und die doch letztlich nur auf einer langen Reihe von Vorurteilen und Mißverständnissen beruhen.

Denn dies erkennt Link als das Dilemma des Schöpfers und seines Geschöpfes: Thomas Manns Ruf als „schwie­riger Schriftsteller“ korrespondiert mit dem selbst verordneten Status des Künstlers Kröger, der sich in nobler Isolation nach den „Wonnen der Gewöhnlichkeit“ sehnt. Beim Erzähler ist es freilich der Blick der Masse auf den Einzelnen, während sich die Perspektive in der Erzählung umkehrt. Weil der Regisseur diese starren Sichtachsen brechen will, verwandelt er das Brennglas des Beobachters in ein vielfach geschliffenes Prisma.

Damit werden freilich sowohl Harald Höbinger (Tonio Kröger) als auch seine beiden Mit- und Gegenspieler Daniela Zähl (Ingeborg Holm) sowie Tim Osten (Hans Hansen) nicht aus jener Verantwortung entlassen, die in der Qualität des Textes formuliert ist. Im mutwilligen, aber nicht willkürlichen Wechselspiel von Beobachtung und Teilnahme ist ihnen der präzise Duktus der berühmt-berüchtigten Mann-Sprache eine bleibende Richtschnur. Daß die Konzentration auf das Sprechen gelegentlich zu Lasten des Zeigens geht, wenn die Körper mechani­scher als der Kopf funktionieren, mag man ihnen freilich kaum zur Last legen. Denn für diese eher trainierten als verinnerlichten Momente entschädigen Links Einfälle, die von einer phantasievollen Selbstdisziplin zeugen.

Das Klassenzimmer-Prinzip, das die Produktion auch für Gastspiele in Schulen empfiehlt, wird zu keinem Zeit­punkt verletzt. Und doch bietet der enge Raum durch Änderungen der Spielrhythmen und der Blickwinkel mühe­los Platz für Krögers kleine Kinder- und seine große Erwachsenenwelt. Daß kurze Comedy-Conferencen oder Dialekt-Kabinettstückchen dabei an die Sehgewohnheiten der jungen Zuschauer appellieren, ohne das Niveau des bürgerlichen Klassikers zu beschädigen, dürfte dem Stück endgültig einen Platz im Repertoire sichern.

Ein guter Mann für eine Doppelstunde Deutsch!

Mitteldeutsche Zeitung

 

Regie und Fassung:
Ausstattung:
Dramaturgie und Fassung:
Inge:
Daniela Zähl
Hans:
Tim Osten / Mario Pinkowski

Kann dieser auf den ersten Blick völlig undramatische Text auf Bühne spannend werden? Bevor wir uns an dieses Projekt heranmachten, mußte Matthias Buck erst einmal Überzeugungsarbeit leisten. Diese endlosen Beschreibungen. Und dann die Auslassungen in Lisawetas Wohnung über Kunst, Gott und die Welt! Und überhaupt: Taugt die Künstlermetapher heute noch als Bild für einen Außenseiter? Oder geht es nicht viel mehr um die erste Liebe (für Tonio: Hans)? Und um die zweite Liebe (für Tonio: Inge)? Beide bleiben unerfüllt. "Das Glück ist nicht geliebt zu werden, das Glück ist zu lieben", schreibt Tonio in sein Notizbuch. Aha. Ich denke an Karl Philipp Moritz und Anton Reiser. "The joy of grief".

Drei Schauspieler sprechen bei uns die Mannsche Prosa, denn es gibt nicht so viel wörtliche Rede in Tonio Kröger. Alles in Dialoge zu überführen, hätte von Thomas Manns wunderbarer Sprache wenig übrig gelassen, das kam nicht in Frage. Also teilen sich Tonio, Hans und Inge den Erzählerpart. Sprechen über sich selbst in der dritten Person oder beschreibend über die anderen. Die Spieler korrigieren sich, fallen sich ins Wort, überlagern sich. Dann wieder saftiges Schauspieler-Theater, z.B. in der Tanzstundenszene. Oder bei der Überfahrt nach Dänemark. Wir sind erstaunt, wie gut, scheinbar zwingend sich der Text zu einem Stück formt, wie Thomas Manns Text in einem heutigen Umfeld lebendig, sinnlich wird. Text, Text, Text – Thomas Lochers Raum-Text-Installation unterstreicht und  konterkarriert die Übermacht der Buchstaben zur gleichen Zeit.

 

"Die Schule war aus" – dieser erste Satz der Erzählung von Thomas Mann war gleichzeitig unser Ausgangspunkt für die Ausstattung. Thomas Mann als "Pflichtlektüre". Schule kann einem die Freude an Texten auch vermasseln. Oder aber uns Texte nahe bringen, die wir freiwillig  nie gelesen hätten.
Auf der Tafel die Wahl des Lieblingsbuches. Rowling siegt knapp über Steven King, Mann verliert mit Abstand. Ein einzelner Außenseiter liest ihn gerne. Tonio?

Längst vor der Welle der Klassenzimmerstücke hatte das Thalia Theater im Jahr 2000 beschlossen, mit diesem Stück auch direkt in den Klassen zu spielen. Also machten wir aus der Not eine Tugend, und holten für die Mehrzahl der Vorstellungen im Thalia das Klassenzimmer ins Theater: Die Zuschauer saßen auf College-Stühlen, deren Schreibflächen vom "Textkünstler" Thomas Locher individuell gestaltet waren, teilweise mit hypothetischen Fragen heutiger Schüler, teilweise mit Zitaten aus dem Stück. "Für wen soll das interessant sein?", "Seine Sprache war nicht ihre Sprache", "Beherrscht Dich ein Gedanke, findest Du ihn überall ausgedrückt". Auf den Jalousien entlang der Seitenwände setzen sich diese Texte fort.

Ansonsten Frontalunterricht. Tafel, Pult, Polylux (oder für alle Wessies: Over-Head-Projektor) – über den Köpfen der Zuschauer/Schüler Neonlampen, die die ersten 15 Minuten das einzige Licht waren und erst unmerklich über viele Minuten vom Theaterlicht abgelöst wurden. Gespielt wurde überall im Raum. Tonio zwischen allen Stühlen.