Vater

Schauspiel von Florian Zeller

»Sensibel und stilsicher, spannend und unterhaltsam bringt Kay Link diese bewegende Szenenfolge auf die Bühne. Perfekt!« Neue Presse

Wenn alle Blätter fallen

Um Demenz geht es in dem Schauspiel „Vater“ in der Coburger Reithalle. Das Publikum feiert den bewegenden und erstaunlich heiteren Theaterabend mit stehendem Applaus.
Die Tochter: Sah sie nicht eben noch ganz anders aus?! Ihre Wohnung: War sie nicht gerade noch die des Vaters?! Diese Szene: Haben wir die nicht schon einmal gesehen?! Was wird hier gespielt? Wer narrt hier wen? Auf was ist noch Verlass? Ist das eine fiese Psycho-Nummer oder nur ein böser Traum? Wir sind verwirrt, und wir sollen es sein. So verwirrt wie André, dessen Welt aus den Fugen gerät. Vertrautes wird fremd, Fremde tun vertraulich, Zeit und Raum lösen sich auf, Realität und Fiktion verschwimmen, was gerade passierte, ist womöglich niemals geschehen. Und wo ist schon wieder diese verdammte Uhr? Kein Spuk verfolgt André, sondern ein Krankheit: Demenz. Es ist schwer zu begreifen, was in einem Gehirn vorgeht, das allmählich die Erinnerung, den Überblick, die Kontrolle verliert. Der junge französische Dramatiker Florian Zeller schafft mit den Mitteln des Theaters, was Buchwissen allein nicht vermag: Sein international erfolgreiches Stück „Vater“ zeigt uns die Verschiebung der Wahrnehmung aus Andrés Perspektive, lässt uns teilhaben an seiner Verstörung, lässt uns mitfühlen, was nicht zu verstehen ist.

Was nach beschwerlichem Betroffenheitsdrama klingt, erweist sich in der Coburger Reithalle als das wunderbare Gegenteil: Sensibel und stilsicher, spannend und unterhaltsam bringt Kay Link diese bewegende Szenenfolge, in der Humor und Traurigkeit, Situationskomik und Erschütterung so nahe beieinander liegen, auf die Bühne. Und am Ende geschieht, was man im Studio selten sah: Stehender Applaus für das großartige Ensemble – allen voran Thomas Straus, der mit hinreißendem Feingefühl und nuanciertem Spiel das Erleben und Empfinden eines Menschen nachvollzieht, dem Stück für Stück alle Gewissheiten abhanden kommen: „Ich habe das Gefühl, dass ich alle meine Blätter verliere, eins nach dem anderen“. Dafür heftet er immer mehr Merkzettel an die kahlen Wände. Wegweiser durch einen kaum mehr zu bewältigenden Alltag. Ein dominanter Mann muss dieser André einst gewesen sein, ein Womanizer wohl auch, oder sagen wir lieber: ein Charmeur, denn wir befinden uns in Paris. Der Pfiffikus von einst, er blitzt noch auf, wenn Andrés Tochter Anne (Eva Marianne Berger) dem uneinsichtigen Vater mal wieder eine Pflegerin (Solvejg Schomers) ins Haus schleppt. Dann zieht der körperlich agile 80-Jährige in Pyjama und Sakko alle Register, sogar solche, die er nie wirklich ausleben konnte: Stepptänzer, Zauberer, Clown. Ingenieur war er tatsächlich. Die Grenze zwischen Wirklichkeit und Vision löst sich allmählich auf – wie auch der Song „Just A Gigolo“, der zusehends verfremdet zwischen den Szenen erklingt.

Und auch wir bleiben im Ungewissen: Die zweite Lieblingstochter, die André so schmerzlich vermisst: Ist sie jung verstorben, hat sie je gelebt? Und dieser neutrale, hellgraue Raum, aus dem Bühnenbildner Frank Albert die Farben und Spuren des Lebens getilgt hat wie die Demenz sie aus dem Hirn radiert: Er verrät weder André noch uns, wo wir uns tatsächlich gerade befinden.

Verwirrung und Angst, Stolz und Starrsinn, Trotz und Verzweiflung, Verletzlichkeit und Aggression: Die ganze Gefühlspalette zwischen Nicht-Wahrhaben-Wollen und Panik vor dem totalen Kontrollverlust fährt Thomas Straus auf, mit subtiler Körpersprache und Mimik umkreist er das Unsägliche, das André nicht über die Lippen kommt, das Tabu des geistigen Verfalls: „Ich bin doch nicht. . .“.

Auch Tochter Anne tut sich schwer damit, die Krankheit beim Namen zu nennen und dem Vater die Wahrheit zuzumuten. Eva Marianne Berger zeigt authentisch, wie schwierig der Umgang mit einem geliebten Menschen ist, den die Demenz davonträgt. Sie lässt Zuneigung, Respekt, Fürsorge, Angst, Trauer spüren, auch die Erleichterung in belustigenden Situationen. Und sie offenbart, wie Empathie und Belastbarkeit an ihre Grenzen stoßen.

Die sind bei ihrem Partner Pierre (Thomas Kaschel) längst überschritten: Mit wachsender Ungeduld und Unverständnis bedrängt er André, dessen Krankheit Alltag und Beziehung belastet. Pierre wie auch Anne begegnen uns in zweifacher Gestalt (Benjamin Hübner und Kerstin Hänel), ein zunächst irritierender Kunstkniff, der ahnen lässt, was es bedeutet, vertraute Menschen plötzlich nicht mehr wiederzuerkennen. Ein starkes Stück zu einem akuten Thema. Ein bewegender Abend, an dem auch gelacht werden darf. Ein nachhaltiges Theatererlebnis, das unaufdringlich sensibilisiert. Perfekt!

Dieter Ungelenk, Neue Presse

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Und wer bin am Ende ich?
Gastregisseur Kay Link hat die spannende Szenenfolge im klinisch-nüchternen weißen Raum von Ausstatter Frank Albert sensibel und durchaus humorvoll inszeniert. Mit minimalen äußeren Mitteln ist es die Stunde der Schauspieler, die die immer abstruser werdenden Situationen und Gespräche durchleben (lassen). Allen voran Thomas Straus als zunehmend verwirrter André in einer meisterhaft präzisen und tiefreichenden Darstellung. […]

Und am Ende, nach eindreiviertel intensiven Stunden: Mich wundert, dass ich so fröhlich bin. Denn Stück wie Inszenierung glauben trotz allem an eine Leichtigkeit des Seins, die das Bedrohliche nicht übermächtig werden lässt. Sie schicken uns am Ende, wie immer nach dem Eintauchen in das Düstere unserer Existenz und dem geglückten Wiedererstehen, sogar ruhiger, gelassener wieder hinaus auf die Straße.

Coburger Tagblatt

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HIER können Sie einen Trailer zur Inszenierung ansehen.

Regie:
Ausstattung:
Dramaturgie:
Carola von Gradulewski